Die Lust am Lichtspiel

Die Multimedia-Aufrüstung des Pantoffelkinos macht den Lichtspielhäusern zwar zu schaffen – aber ein Besuch im „richtigen“ Kino ist immer noch etwas Besonderes, meint Karin Kroemer in unserem aktuellen Themenheft. Den Artikel gibt es hier zum Nachlesen.

Die Lust am Lichtspiel

Mantel anziehen, raus aus der gemütlichen Wohnung. Wenns regnet, Schirm einpacken. Anstehen vor der Kinokasse. Endlich Einlass. Der Nachbar stinkt mit seinen Käse-Nachos vor sich hin. Eine halbe Stunde Werbung angucken. Dann kommt der Film, der ein halbes Jahr später als DVD gemütlich auf dem eigenen Sofa zu sehen wäre. Was, bitte schön, treibt uns heute noch ins Kino? Karin Koemer weiß die Antwort.

Es gibt keinen vernünftigen Grund (mehr), ein Lichtspielhaus aufzusuchen, außer dem Vergnügen, sich hemmungslos gehenlassen zu dürfen und dabei nicht allein zu sein. Man darf nicht, man soll kreischen, lachen, stöhnen, sich aus verschiedenen Gründen in den Sitznachbarn verkrallen und vor allem weinen. Fürsorglich im Dunkeln eingeschlossen, getröstet durch das Wimmern der Gleichgesinnten. Die befreiende Wirkung des Weinens können Sie jederzeit in einem gut besuchten Kino erleben; heulen vor dem DVD-Player dagegen macht nur depressiv.

Selbst in der Oper, wo sich eine Reihe von Fachleuten alle erdenkliche Mühe gibt, die großen Gefühle zu stemmen, wird man Romeos und Julias Sterbeszene mit Fassung und trockenen Auges überstehen. Das liegt nicht an den so gefürchteten dekonstruktivistischen Inszenierungen, sondern daran, dass es einfach nicht der richtige Ort ist. Genauso wenig würde man im Theater, von Erregung übermannt oder -fraut, nach der/dem Liebsten fingern, weil man niemals auf die Idee käme (und weil das Erregungspotential des Schauspiels woanders liegt).

Im Unterschied zu den erwachsenen Spielarten des Spektakels, eben Oper, Schauspiel, Konzert, die daher auch häufig als Arbeit empfunden werden, haftet dem Kinoerlebnis der Charme des ewigen Kindertheaters an. Deshalb ist es auch völlig konsequent, dort Eis und Popcorn auf mehr oder weniger appetitliche Art in sich hineinzustopfen, obwohl jeder weiß, dass Letzteres nach Pappe schmeckt.

Beobachten Sie andere, beobachten Sie sich selbst schon beim Akt des Platznehmens: Das vorfreudige Hineinfläzen ins Kinogestühl würde Sie im Parkett eines beliebigen Stadttheaters Ihren Ruf als Feingeist kosten. Hier macht es jeder.

Seltsamerweise ist so das Kino, obwohl die jüngste Darbietungsform, den kulturgeschichtlichen Wurzeln des kollektiven Schaugenusses am nächsten. Offensichtlich ist es etwas dem Menschen Ureigenes, mit anderen in einer dunklen Höhle zu sitzen und sich Sachen auf einer beleuchteten Wand anzusehen.

Man weiß nicht mehr so genau, was Platon mit seinem Höhlengleichnis eigentlich sagen wollte, aber die Szenerie mit den Schatten und den gebannten Zuschauern, die nicht rauswollen, hat man präsent. Ebenso urmenschlich scheint das Bestreben, etwas als angenehm Entdecktes zu optimieren. Also wurde das Ambiente dekoriert, indem man dem Dargebotenen einen würdigen und daher meistens goldenen Rahmen verpasste: Die Bühne war erfunden.

Sobald nun Menschen für eine längere Zeit an einem Ort sitzen, werden sie früher oder später anfangen zu essen, und so fanden die Tische ins Theater. (Selbstverständlich gab es in den antiken Theatern keine Tische, vermutlich haben die Griechen deshalb das Fingerfood erfunden, Spieße zum Beispiel.) Und so war das, worüber sich vermeintlich Kulturbeflissene heutzutage gern beschweren, wenn sie in den „schrecklichen“ Multiplex-Kinos auf deutlich jüngere Zuschauergruppen treffen, nämlich Rascheln mit Chipstüten, Dazwischenquatschen, Telefonieren und „dieser Popcorngestank“, seinerzeit das ursprüngliche Theatererlebnis schlechthin. Nur dass es viel beherzter zur Sache ging.

Ob nun mehrgängige Menüs verspeist, Geschäfte abgewickelt, Ränke geschmiedet, Verbindungen aller Art geknüpft wurden, mag sich jeder selbst ausmalen. Etliches, was man sich heute in einem Kammermusiksaal mühsam erarbeiten muss, immer in der Sorge, wegen eines kleinen Räusperers niedergezischt zu werden, wurde mal als Tafelmusik konzipiert!

Den Cut zwischen U und E überlebt hat diese anarchistische Form des Kulturkonsums zunächst in den Varieté-Theatern. Dort hatte auch das Kino seine ersten Auftritte. Als die Filme noch nicht abendfüllend waren, fanden sie ihren Platz und ihr Publikum zwischen Schwertschluckern und tanzenden Pudeln. Genau dieses Tingeltangelige ist höchstvermutlich der mythische Bodensatz für eine Leidenschaft, die einfach nur sinnlich ist. Niedergeschlagen hat sich dieser zwielichte Charakterzug auch und gerade in der Kinoarchitektur.

Ja, es durfte immer ein bisschen mehr sein. Da passte es, dass die neue Bauaufgabe „Lichtspielhaus“ in die ornamentverliebte Zeit von Jugendstil zu Art déco fiel. Reichlich mit Reliefs, falschen Säulen, Statuetten, Samt und Plüsch ausgestattet, gefielen sich die Kinos in Bezeichnungen, die häufig auf -palast endeten. Und doch vermittelten sie über den Eintrittspreis, dass es sich um eine höchst demokratische Form der Monarchie handelte. Aus bekannten Gründen gibt es kaum Relikte aus dieser Zeit, und es schien darauf hinauszulaufen, dass der aus Ruinen erstandene Mensch keine Lusttempel mehr brauchte. Er brauchte ein Heim. Und so hält sich als einer unter vielen der Irrtum, dass man das Höhlengleichnis auch im Wohnzimmer nachspielen kann.

Das funktioniert aber nicht, denn Leidenschaft braucht Hingabe. Die ist aber nicht zur Stelle bei einem Vorgang, den man mit einer Fernbedienung unterbrechen kann. Sagen wir es lapidar: Die DVD zuhause ist die gelegentlich durchaus willkommene Tiefkühlpizza, die aber das Tafeln beim (guten) Italiener niemals ersetzen kann.

Nur in einem Kino erschließt sich Ihnen, wer beispielsweise ein Kinoflüchter oder ein Abspanngucker ist. Spätestens vor der Eheschließung sollten Sie diese Frage geklärt haben.

Nur einem rauchenden Kinobesucher wird sich erschließen, was ein Raucherfilm ist, nämlich einer, dessen dramaturgische Mängel sich durch die Lust auf einen Cigarillo zwischendurch offenbaren.

Halten wir fest, dass nur im Kino alles möglich ist. Egal, ob cineastische Perle oder völkerverbindender Blockbuster: Sie werden niemals einsam sein.

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