… und wie sie sich verliefen. Die kleine Geschichte eines großen Mediums. Von Ulrich J. C. Harz.
Der wunderbare Regisseur Jean-Luc Godard hat es auf den Punkt gebracht. „Die Fotografie ist die Wahrheit. Und das Kino ist Wahrheit. 24 Mal in der Sekunde.“
Mit der Suche nach Wahrheit beginnt die Geschichte des Kinos. Ein Engländer, Eadweard Muybridge, wollte mit einer Serie von Fotos beweisen, dass beim Galopp eines Pferdes oft keiner der vier Hufe den Boden berührt. Der Beweis, siehe Abbildung rechts, gelang. Und etwa 20 Jahre später, genauer gesagt 1895, schlug die Geburtsstunde der Filmkunst. Die Gebrüder Lumière in Paris und ein Erfinder in Diensten von Thomas A. Edison in New York erfanden zeitgleich zwei Verfahren zum Aufnehmen und Abspielen bewegter Bilder. Sie filmten zunächst Momentaufnahmen des Alltags, Sequenzen von nur wenigen Sekunden, etwa Arbeiter beim Betreten ihrer Fabrik.
Diese so ganz gewöhnlichen Genrestücke waren aber so ungewöhnlich in der Technik der laufenden Bilder, dass sie zur Jahrmarktsattraktion wurden. Die Filmgeschichte beginnt in der Kirmesbude, im Varieté, im Vaudeville. Während die Franzosen zunächst quasi Dokumentarisches filmen, haben die Amerikaner schnell den Wert der Unterhaltung entdeckt, komische Szenen à la Dick und Doof locken die Zuschauer massenweise in die Buden. Das alles ist ganz kurz, ganz stumm und immer schwarz-weiß.
Die Technik entwickelt sich zunächst wie die Erfindung des Films ganz ohne Norm. Besonders die Drehgeschwindigkeit war eine individuelle Festlegung des Regisseurs, weshalb uns der Kintopp immer so hektisch gedreht erscheint. Der Filmvorführer konnte wiederum die Geschwindigkeit mittels einer Kurbel korrigieren.
1915 beginnt mit der Erfindung des Spielfilms die große Zeit des großen Kinos. Griffith’ „The Birth of a Nation“, ein Leinwandepos um die amerikanische Bürgerkriegsgeschichte, gilt als erster abendfüllender Spielfilm. Mit dieser Art von Filmen entsteht das Dorado von Hollywood, jener Traumfabrik, die fortan die Welt beglückt. Mit Traumstorys von Spartacus bis Titanic, mit Traumfrauen von Rity Hayworth bis Pretty Woman, mit Traumprinzen von Tarzan bis Leonardo di Caprio.
Dabei setzt Hollywood für lange Zeit die technischen Standards. In den Goldenen Zwanzigern kommt neben dem Sehen das Hören als zweite Dimension zum Kinogenuss. Bis dahin hatten Stummfilmpianisten, oft auch ganze Orchester, das Filmgeschehen untermalt. Die Tonspur änderte alles. Weil sie auf dem Trägermaterial Film mitlief, wurde die Zahl der Bilder pro Sekunde auf 24 festgelegt. Das blieb so bis zur Einführung des Fernsehens.
Noch einmal der philosophische Filmer Godard: „Das Kino ist eine Idee des 19. Jahrhunderts, eine Idee, die ein Jahrhundert brauchte von ihrem Entstehen bis zu ihrem Verschwinden.“
Den Höhepunkt erlebt die Kunstform Film in der Mitte des 20. Jahrhunderts, die Lichtspieltheater machen den Theatern Konkurrenz, die Kinoarchitektur orientiert sich an der großen Oper, viele Kinos haben als Beinamen „Palast“. Das Roxy Theatre in New York, weltweit größtes Kino mit 6.200 Sitzplätzen, stiehlt jedem klassischen Theater die Schau.
Mit den Oscars, quasi dem Nobelpreis für Filmleute, zementiert Hollywood endgültig seinen Anspruch, Dreh- und Angelpunkt des internationalen Filmschaffens zu sein. Längst hat das Kino sich neu erfunden, der Farbfilm bringt noch mehr Realität auf die Leinwand, Dolby erfindet den rauschfreien Klang bis hin zum Surround-Sound und Cinemascope wird das Breitwandformat, das jeder Heldensaga, jedem Weltuntergang das ganz große Bild zur Verfügung stellt. Einen weiteren Innovationsschub erlebt das Kino mit der Digitalisierung. Vorbei die Zeiten, als Boten schwere Filmrollen durch die Städte fuhren, als die Bedeutung eines Films an der Startzahl seiner Kopien gemessen wurde, die teuer und aufwendig in Kopierstraßen gezogen wurden. Gerade die großen Kinoketten sind heute Vorreiter der Digitalisierung, die Länder mit der umfassendsten Digitalisierung sind die Kinogiganten USA und Indien. In Deutschland beharren gerade Programmkinos und kommunale Kinos auf der klassischen Projektion. Der wesentliche Nachteil der Digitalisierung ist für Cineasten, dass alte Klassiker, die es nicht mehr zu digitalisieren lohnt, aus dem Repertoire herausfallen werden. Dafür werden Satellitenübertragungen von Events wie Sportveranstaltungen, Festivals etc. möglich. Die Metropolitan Opera zum Beispiel überträgt ihre Premieren seit Jahren in alle großen Städte der Welt.
2008 kommt der bislang letzte große Innovationsschub aus Hollywood, denn mit der vorherrschenden digitalen Projektionstechnik DCI erreicht man eine ganz neue stereoskopische Bildqualität, der 3-D-Film erobert mit seinem räumlichen Sehen den Zuschauer. 2009 wird der kommerziell erfolgreichste Film der Kinogeschichte, „Avatar“, von der Mehrheit der Zuschauer in 3-D gesehen. Wim Wenders beweist mit „Pina“, dem Tanzfilm über die Wuppertaler Choreografin Pina Bausch, dass auch Kunst in 3-D möglich ist. Mit dem spekulativen und spektakulären Versuch, ein 5-D-Kino zu etablieren, ist das Kino an seinen Ursprungsort, den Jahrmarkt, zurückgekehrt. In Ferienparks und Erlebniswelten wird etwa das Gestühl bewegt, um einen Pferderitt oder ein Erdbeben zu simulieren. Aber das fordert einen Aufwand, der nur in solchen kollektiven Bespaßungs-Szenarien möglich ist. Auch die Versuche eines Duftkinos, passend etwa bei Eichingers „Das Parfüm“, oder das Spritzen mit Wasser bei Hochseekatastrophenfilmen sind nur ein mühsamer Versuch, noch die letzten Erlebnisdimensionen des Zuschauers zu bedienen.
Und wie sieht die Zukunft aus? Sind das die Multiplexe der großen Ketten, die seit den 80er Jahren auf der grünen Wiese jugendliche Freizeittotschläger zum totalen Relax einladen, mit Spielothek und Burgerbeef unter einem Dach, mit der Popcornmaschine neben dem Tattoostudio? Oder liegt die Zukunft im anspruchsvollen Programmkino, das statt Blockbustern die afghanische Kurzfilmwoche anbietet?
So viel scheint sicher: Das jahrhundertbewegende Massenmedium entwickelt sich zur ganz individuellen Nutzungsform, bei der jeder User seinen Film per Datenträger auf dem Handy oder der Spielekonsole sehen kann, vor- und zurückspult, selber zoomt oder Handlungsstränge ausblendet. Die Verfügbarkeit der bewegten Bilder erlaubt jedem seinen eigenen Film. Nur das kollektive Erleben, die gemeinsame Gänsehaut im Kino wird es so nicht mehr geben.
Vorbei die Zeiten, als der rote Vorhang sich im festen Ritual nach der Eiswerbung zum Cinemascopeformat öffnete, ein Glockenton das Ende der Reklame und den Beginn des Hauptfilms anzeigte und man sich in bequeme Sessel schmiegte, bis der letzte Best Boy im Abspann Erwähnung fand. Auch die schönsten Kinonebentätigkeiten Knabbern, Kuscheln, Knutschen müssen sich andere Behausungen suchen.
Wer aber noch einmal ins Goldene Zeitalter des Kinos zurückkehren will, der reise zu den großen Festivals in Berlin, Cannes oder Venedig. Oder man sieht sich im Privatkino Jean-Luc Godards „Geschichte(n) des Kinos“ an, erhältlich auf DVD. An einem langen Wochenende hat man dann alle Zeit der Welt für eine ihrer herrlichsten Kunstgattungen.